LOTTA LOVE
„Ich mag dich auch, und ich steh auf dich.“
Jemand kotzt neben uns in einen Blumentrog. Einmal traue ich mir offensiv zu sein. Eigentlich sollte sie mich jetzt ganz verliebt anblicken, blaue Augen unter dem blonden Pony mich an schmunzeln. Das Weiß in ihren Augen kurz aufblitzen. Ihre Lider sollten sich senken, unsere Oberkörper nach vorne bewegen, langsam, bis unsere Gesichter sich zur Seite geneigt haben, die Münder nah genug sind für einen sanften Griff in den Nacken.
Ich habe seit November nicht mehr geschmust.
Lotta und ich trotten in Richtung Bahnhofsmarkt. Die Nacht fühlt sich alt an, aber es ist halt schon wieder so früh dunkel. Meine Finger sind klamm um die Bierdose gekrallt. Ich mag schon wieder rauchen, aber sie hat aufgehört.
In meinem Kopf kreist die Frage, wer von uns beiden sich zuerst verknallt hat. Oder, ob mein Hirn schon wieder durchdreht. Ich denke an alle Fragen, die ich ihr stellen will. An alle Details meines verrückten Wochenendes, die ich mit ihr teilen möchte. Ich denke noch nicht über das Warum nach. Darüber, dass ich mich dauernd fremd verliebe. Das kommt erst wieder am Freitag im Rahmen der Paartherapie mit Mäcs. Seit Lotta und ich uns wieder getroffen haben, gleicht mein Alltag einem Kettenkarussell. Ich bin schwindelig.
Am Wochenende bin ich ohnehin wieder allein. Ich verabscheue dieses „Bergsteigen“ mit den Leuten aus dem Dorf. Ich wohne doch nicht in der Stadt, um mich bei jeder Gelegenheit mit der Moped-Clique aus den Neunzigern zu treffen. Sie hacken auf ihresgleichen herum, versuchen sich mit schlechten Witzen über die andern zu stellen und biegen, mit zunehmendem Schnapskonsum, am Ende immer in die Straße der Erinnerung ab. Aus den gleichen Gründen, aus der gleichen Not heraus, wie damals. Mäcs fährt dennoch mit.
„Hat’s dich eh nicht erwischt?“
Ich merke, wie ich rot werde. Doch. Diesmal bin ich wirklich verknallt. Im Schal versteckt, beiße ich mir in die Unterlippe und greife in die Manteltasche.
Sie mustert meine Stiefel: „Oh, schau mal, ein bisserl schon“.
Ja danke, Mahlzeit! Es sind sogar Bröckchen auf den Schuhkappen. Meine Hand greift, neben den Kippen, die ich gesucht hätte, auch in zwei benutzte Taschentücher. Ich knie mich auf den kalten Gehsteig und schmiere damit über das schwarze Leder. Ich hoffe es bleibt nichts, aber wahrscheinlich riecht sie es. Schnell stecke ich mir eine Zigarette an.
Er wird halt wieder jammern. Wo ich da wieder reingestiegen bin. Wo ich wieder unterwegs war bis ewig spät. Dass ich mich wieder angesoffen hab. Und mit wem. Und warum. Und wieso ich meine Schuhe nie putze. Weil ja er immer alles sauber machen muss bei uns zuhause. Scheiß Paartherapie.
Der Rauch lässt sich in der kalten Jahreszeit so geil rauspusten. Ich blicke dem hellen Rauchstrahl nach. Über uns ist es sternenklar, wahrscheinlich. Hier an der Tangente muss man sich halt die Milchstraße vorstellen. Partywütige Studis strömen vorn an der Kreuzung über die Vierspurige. Wenn ich Sterne sehe, ist es immer gut. Das war schon mit siebzehn so. Kassiopeia schauen und schmusen. Am Sportplatz neben dem Altenheim. Am Parkplatz neben dem Klowagen. Mäcs war damals mein großer Fang. Meine erste Liebe. Meistens war ich damals betrunkener als heute.
Meine zweite Bierdose poltert zerquetscht in den nächsten Mistkübel. Lotta und ich sind seit sieben unterwegs, meine Nase erfriert bald unter der schweren Brille. Lotta sprach viel über ihre Freundin, ihr gemeinsames Kind. Sie fand es witzig, dass ich Katzen habe. Wir haben beide oft nachgefragt. An der Ampel trennt sich unser Heimweg.
„Sehen wir uns bald wieder!“
„Ja fix. Auf bald…“
Sie packt meinen Kopf in beide Hände und küsst mich auf den Mund.
(…)
lotta love, mk. 2022
auszug aus der kurgeschichte. im ganzen zu hören als podcast von silke siegel auf wasliestdieda.de.
EINE VON HUNDERT
Das Reisen war mir lange Zeit unheimlich, vielleicht auch, weil ich mich einmal im Urlaub in einen Delfin verwandelt hatte. Seit Jahren hatte die Angst mich im Griff, es könnte sich wiederholen. So hatte ich es bislang nie besonders weit aus Österreich weggeschafft.
Der kritische Anstoß, mich zum ersten Langstreckenflug mit mir selbst zu ermutigen, kam vor Weihnachten. Meine jährliche Depression hatte sich stark ausgewachsen und ich hatte wieder einmal meinen Job geschmissen. Freunde sprachen mir liebevoll und nachdrücklich zu, dass ich woanders, weit weg vom Wiener Wintermatsch, wieder Zuversicht finden würde.
Jetzt habe ich also sechs Wochen in Neuseeland verbracht, in einem Sechzigpersonenbus. Heiß war es und sonnig, und es hat mir gutgetan, mich einmal mit ganz anderen Menschen auszutauschen. Morgen geht mein Rückflug nach Hause. Die letzte Busfahrt heute, zurück nach Auckland, wird keine zwei Stunden mehr dauern. An uns zieht die hügelige Vulkanlandschaft der Nordinsel mit ihrer üppig wuchernden Pflanzenwelt vorbei. Ich sitze in der hintersten Reihe neben der zwanzigjährigen Psychologiestudentin aus Berlin. Wir genießen die Aussicht, und ich will eben meine Kopfhörer aufsetzen, da stupst sie mich vorsichtig an: „Dein Delfin-Tattoo ist krass geworden. Hast du das gestern noch machen lassen?“
Eine rhetorische Frage, denn die Folie ist noch über meinen Arm gewickelt. Ich freue mich, dass sie es anspricht: „Ja, das ist sich gerade noch ausgegangen in Wellington“. Ja, es ist wirklich ziemlich krass geworden. Reisetätowierungen finde ich selten inhaltlich spannend oder besonders kreativ. Viele ließen sich hier Sonnenuntergänge in der Form Australiens stechen oder Landkarten in Maori-Mustern.
Das frische Tattoo an der Innenseite meines Oberarms ist kein Souvenir. Es war einfach längst fällig. Meine Geschichte dazu, die ich dem Künstler in zwei Sätzen erzählt hatte, brachte er perfekt unter meine Haut. Man kann die Zeichnung wohl nur verstehen, wenn man weiß, welchen symbolischen Wert sie für mich hat. Aber ich erzähle das alles nicht oft, nicht in zwei Sätzen und nicht jedem. Nur manche meiner Reisebekanntschaften habe ich eingeweiht, auch die Deutsche neben mir. Trotz unseres Altersunterschiedes haben wir uns lange und tiefgründig ausgetauscht. Sie tätschelt mir die Schulter, wir lächeln uns wissend zu.
Den Kopf zum Fenster wegdrehend, setze ich mir meine Kopfhörer auf. Musik meiner Lieblingsband setzt ein, und ich schließe die Augen: „Everything in its right place“. Das Lied beruhigt mich heute noch so wie vor fünfzehn Jahren, als ich selbst einundzwanzig war. Damals war ich ein Delfin.
(…)
eine von hundert, mk. 2020
auszug aus der kurzgeschichte
M1 WEIHNACHTSGEDICHT
Vor de Feiertag bin i dicht.
Dichta Nöwö üba de Meisenkugerl in da Fichtn.
Guad, dass de Festner so guat dichten.
I richt mi zaum, ois dad i ausse geh.
Dichterverkehr, songs im Radio, heuer bitte nur via Zoom.
I red mehr ois i schreib.
Da Kalender bleibt trotzdem dicht gstopft mit Orweit,
so wias Gansl am Fünfazwanzigstn.
Za de Feiertag bin i dicht.
Termin bei da Oma foit heia aus.
Dicht drängt steh i zwa Stund im Railjet.
Des Bamal heier is owa net gaunz dicht.
Wenigstns nodlts daun ned so,
denk i ma, und schenk eana numoi
an Schnops ei nachm Essen.
De Keks woarn wirklich a Gedicht.
Nach de Feiertag bin i dicht.
S Bluat steigt ma ins Gsicht.
Vom Rotwein und vom Fichtenwipferlschnops
büd i ma ei, kriag i a Sehnenscheidenentzündung.
Dawei schreib i e nu recht wenig an meina Gschicht.
Dawei hob i ma e ois scho so sche hergricht.
Dawei leg i mi nuamoi daune.
Weu am Obnd bin i imma scho so miad.
Frohe Feiertag.
De Grenzen san imma nu dicht.
Üwas Mittelmeer und in Bosnien.
I mog sei Gsicht scho nimma seng,
wenigstens oa Erfoig jüngst vor Gericht.
Waun i ma vorstö, wie schlicht audare leben,
frag i mi was i ausrichten kaun.
An schen Gruas vo da Oma?
Ihr Hunderter geht heuer an SOS Bihac.
Pass‘ ma auf einander auf.
m1 weihnachtsgedicht, mk. 2021
SZENE 2.1
Seine Lippen sind so fleischig, dass mir graust. Er rührt mit seiner schleimigen Zunge in meinem Mund herum, wie ein verzweifelter Maurer. Seine Hände wühlen unter meinem T-Shirt zielstrebig immer wieder an meinen BH. Magensäure klopft an meine Kehle. Ich nutze den Beat der dröhnenden Neunzigerjahre-Nummer und schubse ihn zurück. Soll ich ihn anlachen, oder mir den Finger gleich hier am Dancefloor in den Mund stecken?
Es ist Mitternacht, alles schwitzt hier. Die Leute, die Fensterscheiben und die Wände. Ich schlüpfe wendig durch die dicht gedrängte Menge und wippe mich im Takt in Richtung Bar. Die Älteren im Studentenwohnheim schenken wieder aus. Sich an den Tresen anzulehnen wäre fatal, Tequila und Cola-Rum schwimmen auf der Plastikfolie um die Wette. Ich schreie den Typen dahinter um ein Bier an. Er schaut scharf aus, Tätowierung am Unterarm und ein Nasenring. Trotzdem er in der Affenhitze eine Wollhaube trägt, stelle ich mir allerlei Schandtaten vor, die ich mit ihm anstellen könnte.
Die „Drei Euro!“, habe ich in Münzen.
Als er mir den schwappenden Becher reicht, schlängelt ein dicklicher Lockenkopf sich galant wie ein frisch geschlüpftes Rehkitz unter der Theke hervor und greift meinen Arm: „Komm mit, schnell!“
Dani und ich tänzeln uns flink und unauffällig durch die wippenden Körper in der hitzebeladenen Aula zum Beat nach draußen. Die laue Sommernacht wummert, lacht und schmust. Zweimal um die Ecke gebogen, präsentiert Dani mir ihren Schatz: Eine volle Flasche roten Eristoff.
„Ahaha! Hast du die jetzt an der Bar geklaut?“
„Fix!“, schreit sie torkelnd in den schmalen Streifen des schwarzen Himmels über uns.
Wir plumpsen auf den Gehsteig, alles dreht sich. Frischluft. Ich zücke mein Tabaketui und drehe uns zwei Zigaretten. Die Wodkaflasche klebt wie eine Venusfalle. Ich kippe einen guten Schluck und reiche Dani ihr Schätzchen zurück. Sie zieht an, als wäre es eine Weinflasche.
„Dani, sauf nicht so schnell!“
„Wen interessiert’s? Semester Closing!“, quietscht sie lachend und setzt nochmals an der Flasche an.
Ich entreiße ihr das Teufelszeug. Ihre Eltern sind abschreckendes Beispiel genug. Und, ich weiß, wie sehr sie darunter gelitten hatte, schon als Kind ihrem Vater den Whiskey ständig nachfüllen zu müssen.
„Was ist mit dir? Ich bin erwachsen…“, Dani streckt ihre Zunge zwei Kilometer weit raus und lacht mich glasig mit weit offenen Augen an.
„Das ist nicht mehr lustig“, ich mache mir Sorgen. Dani war in der letzten Woche echt krass am Feiern, und wir sind noch zu jung, um uns ganz kaputt zu saufen.
Jemand kotzt in der Seitengasse. Als wir den Schwall hören, der sich wie Putzschwemme über die Straße ergießt, lachen wir laut und stehen vorsichtig auf. Natürlich nicht, ohne uns dabei aneinander festzuhalten. Josch duckt sich in großem Bogen um uns auf die andere Straßenseite rüber.
„Was macht der Joschi?“, Dani zeigt auf die andere Straßenseite und ruft unserem schlurfenden Freund nach: „Herr Seidl! Was ist mit Ihnen?“
Er stolpert hängenden Kopfes weiter, dreht sich nicht einmal zurück nach uns um. Er hat uns hundert pro gehört.
„Lass ihn“, murmle ich, „Er schmust so grauslich, ich brauch den heut nicht mehr…“
„Er… WAS?“, Dani quietscht gellend und scheppert sich gefühlt eine Stunde lang ab über meinen zwischenmenschlichen Fehltritt.
„Anna. Du bist so ein Arschloch.“, sie will mich hauen, ich weiche zurück.
Wir setzen uns wieder und blicken uns so tief in die Augen, wie man es mit vollem Tank noch schaffen kann. „Das ist echt unmenschlich von dir. Josch steht nämlich wirklich auf dich“.
Mir dämmert Unheimliches.
Jetzt ist schon wieder mein verdammtes Tabaketui weg. Ich taste den Gehsteig rund um uns beide ab und schubse dabei beinahe den halbleeren Eristoff um, den wir solidarisch zwischen unseren Hintern positioniert haben.
„Da seid ihr!“, vor uns hat sich plötzlich ein Jeanspaar aufgebaut.
Mein Blick klettert nach oben und ich erkenne den tätowierten Unterarm des Mützen-Typs von der Bar. Ein gefährlich leuchtendes Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus. Ein noch gefährlicheres Feuerwerk in meiner Brust entfacht.
„Meine Verehrung!“, ich strahle den großen Mann an wie ein Atomkraftwerk.
Er packt Danis Unterarm: „Her mit dem Wodka!“
Ich erhebe mich elegant wie nur Marie Curie es in ihrem letzten Lebensjahr gekonnt hätte und werfe meinen Arm über mein neues Schätzchen. In der Hoffnung auf Kernspaltung, klimpere ich meine Aufwartung auf schwer getuschten Wimpern und mir fällt nichts Besseres ein, als ihm ein Busserl auf die Wange zu schmatzen, „War nicht böse gemeint“.
„Ernsthaft? Ich könnte euch anzeigen!“, er windet sich aus meiner Umarmung.
Seine muskulösen Oberarme bleiben in meiner Brust gespeichert bis in alle Ewigkeit. Ich beiße mir fest auf die Unterlippe und starre auf seine Skaterschuhe.
Dani hievt sich wankend hoch, grapscht nach dem Schnaps hinter sich und streckt ihm den ranzigen Rest hin: „Return to sender.“
Die Literflasche fällt in seine große Hand. Er packt sie souverän in seine Gesäßtasche und steckt seinen Zeigefinger in meinen Bauch: „Drei Uhr. Treffpunkt Bar. Du hilfst mir aufräumen.“
Dani knufft mich in die Seite und wir prusten los, als Mr. Wichtig abzischt. Die Vorstellung erscheint uns beiden zwar krass komisch, aber ich freue mich jetzt echt auf unser ‚Aufräumen’.
szene 2.1 aus einem romanprojekt, mk. 2020